Leseprobe

Rhizom
von
Kerstin Herzog


Regentropfen schimmern blau auf dem grauen Asphalt. Manche irisieren und wer-fen die Strahlen der Neonlichter gebrochen zurück.
Ihr blasses Gesicht spiegelt sich in den schwarzen Scheiben der Hochhausfronten, und in Rinnsteigen bilden sich weiße Schlieren, welche die Straßen mit winzigen flimmernden Schaumkronen überziehen.
Bässe ballern mies aus dem Untergrund, und sie lächelt den Türsteher betörend an. Drinnen läuft sie gegen eine Wand aus Alkoholdunst, Schweiß, Kaugummigeruch und heimlichen Zigaretten. Der Club ist voll. Ihre Augen gewöhnen sich langsam an schemenhafte Gestalten. Im Millisekundentakt werden Tanzende durch Stroboskope grell ausgeleuchtet, sodass sie sich bewegen wie in einem Daumenkino, welches zu hastig durchgeblättert wird. Sie nippt an ihrem Ginger Ale, beobachtet die zappelnden Menschen auf der Tanzfläche, wippt im Takt mit und wirft ihr Lächeln in die Runde. Mit einem Blick erfasst sie ihre nähere Umgebung. Keines der Gesichter interessiert sie, also wechselt sie den Platz. Wieder Lächeln. Wippen. Um ihre langen Haare besser zur Geltung zu bringen, schwingt sie den Kopf leicht hin und her.
Der Song ist vorüber, die Leute vor ihr auf der Tanzfläche teilen sich, schlendern auseinander, hören auf die beginnenden Takte des nächsten Liedes. Und dann sieht sie ihn. Er steht bewegungslos mitten auf der Tanzfläche und lauscht. Den Kopf gesenkt, die Hände in den Hosentaschen, das schwarze Hemd einen Knopf zuweit geöffnet. Er ist perfekt. Ihr Herz klopft bis zum Hals. Es ist die Art Perfektion, die man nicht glauben kann, bei der man sich die Augen reibt, zwinkert oder ungläubig mit dem Kopf schüttelt. Die Art Perfektion, die einen erstarren lässt vor Überwältigung, die weh tut.
Er hebt seinen Kopf in ihre Richtung, ihre Augen treffen sich und dann bewegt er sich langsam auf sie zu.


1.Song: CocoRosie - Terrible Angels

Er zieht sie an der Hand auf die Tanzfläche, greift nach ihrem Körper und zwingt sie an sich, schnell und selbstverständlich. Seine Hand fährt unter ihr Shirt, die Finger tasten ihren Rücken auf und ab, er presst seinen Unterleib an sie und schiebt mit der anderen Hand ihren Hintern in Position. Scheißlied. Mit der Faust stemmt sie sich gegen sein Schlüsselbein, die freie Hand schlägt seine von ihrem Hintern weg. Irritiert zuckt er zurück, sieht ihr fragend ins Gesicht, nur um dann den Kopf in ihrer Halsbeuge zu vergraben. Die Hand unter dem Shirt wandert vom Rücken auf ihre Bauchseite. Mit eisernem Griff hält sie die Hand fest. Den Takt kann er nicht halten, als er seine Zähne in ihren Hals gräbt. Sie fängt an zu reden, stellt Fragen, zu bemüht, das weiß sie. Die unverständlichen Antworten summt er in ihr Ohr. Es kitzelt. Mit einem kleinen Lachen entspannt sich ihr Körper. Der perfekte Mann fürs Leben. So fühlt sich der an. Einer mit gewaltiger Energie, nur muss sie jetzt wieder ihre Hand gegen seine Brust drücken, so presst er sie an sich.



2.Song: Portishead - Maschine Gun

Die Wand fühlt sich feucht und kühl an. Ausdünstungen der anderen tropfen an den feinen Rissen und Poren des Gemäuers und an ihrer Handinnenfläche entlang. Kein Halt, sie rutscht ab.
Wie sie denn heiße, fragt er. Ihre Antwort verschwindet in den Bässen. Eine Mailadresse möchte er, die braucht er. Perfektes Lächeln, leichtes Wippen. Warum keine Telefonnummer, wundert sie sich. Das Lächeln verstärkt sich, sie fragt nicht nach. An der Bar bestellt er zwei Drinks und sie schreibt ihre Mailadresse mit Kajal auf seinen Arm. Sie lächeln sich an. Mit einem zufriedenen Blick streift er die Buchstaben auf seiner Haut. Er sei gleich wieder da, flüstert er ihr zu, sie solle hier warten. Seine Hand streift über ihre Wirbelsäule, jeden Knochen einzeln erspürend. Dann ist er weg. Verblüfft starrt sie auf seinen halbvollen Drink, der einsam vor ihr steht. Wie aus einem Tiefschlaf erwachend nimmt sie die Leute um sich herum wahr: die traurige Frau am Tresen, deren Falten im Sekundentakt unbarmherzig von den Scheinwerfern ausgeleuchtet werden, kichernde Mädchen mit zu roten Lippen, den Barkeeper mit der Edelpunkfrisur und flüchtig das Gesicht eines Mannes mit Lederjacke im Gegenlicht. Für einen Moment sieht es so aus, als trüge er einen Strahlenkranz um sein Haupt. Er starrt sie an, beobachtet sie. Wie lange schon?
Aus Verlegenheit und Langeweile zieht sie ihr Smartphone aus der Tasche. Zwei neue Freundschaftsanfragen. Sie kennt die Leute nicht, bestätigt aber die Anfragen. Spam auf ihrer Mail. Eine Mail ihrer Firma mit Anhang.
Langsam hebt sie den Kopf, blickt auf seinen einsamen Drink vor sich und dann dem Lederjackenmann am anderen Ende des Tresens ins Gesicht. Der hält den Blick und fixiert sie unverhohlen. Sie öffnet den Anhang. Das Display ihres Smartphones wird augenblicklich schwarz. Das ist nicht gut. Hektisch tippt sie auf ihrem Gerät. Nach einigen Minuten startet es neu, erleichtert atmet sie aus. Nur ein Absturz. Alles gut. Sie wischt über die Oberfläche des Telefons: Ihre gesamten Apps, ihre Fotos und ihre Kontakte sind weg. Stattdessen gibt es nur einen einzigen neuen Kontakt in ihrer Liste. Mit einem perfekten Lächeln im schwarzen, zuweit geöffneten Hemd.


3.Song: PJ Harvey - Is this Desire

Ein Hack? Er strahlt sie an, den Drink in der Hand. Schüttelt den Kopf, so unschuldig. Nervös wischt sie auf ihrem Gerät. Alle Kontakte, Apps und Bilder sind wieder da. Mit Entsetzen fängt sie an, ihre Wahrnehmung, ihre Sinnesorgane in Zweifel zu ziehen. Aus ihren Beinen weicht die Kraft, der Boden wird abschüssig und sie wankt, murmelt etwas von Nase pudern und stolpert weg von der Bar. Die Bässe dröhnen im Ohr, die Verzweiflung kriecht vom Magen in ihre Kehle hinauf, Tränen laufen unkontrolliert die Wangen herunter. Sie kämpft gegen das grelle Licht der Stroboskope, rutscht aus und wird von einer unverhofften Bewegung am Fallen gehindert. So wie man eine Katze aus dem Müll zieht. Der Strahlenkranz ist verschwunden und der Mann sieht sie abschätzend an. Ihre Hand klebt an seiner Lederjacke, einer Bewegung im Affekt geschuldet. Sie weicht hastig vor ihm zurück. Sein glattes Gesicht zeigt keinerlei Regung. Die grünen Augen liegen wie tot in ihren Höhlen. Frostfinger greifen nach ihrem Herz und drücken ihr Atem und Puls ab. Ohne Dank wankt sie weiter.
Als das eisige Wasser über ihre Handgelenke fließt, beruhigt sie sich und betrachtet ihr verschmiertes Gesicht mit den kajalschwarzen Tränenspuren und dem verlaufenen Rouge im Spiegel. Katastrophe! Zittrig fummelt sie aus ihrer Handtasche Zigaretten und Feuerzeug. Sie wird schneller sein müssen, überlegt sie, schneller als er. Entschlossen legt sie ihr Handy unter einen Mülleimer in eine der Kabinen. Es ekelt sie vor diesem Gerät mit seinen Mikrofonen, Lautsprechern und Ortungsapps.
Im Club wendet sie sich ab von der Bar, weg von ihm und seiner unerträglichen Per-fektion, schreitet in die entgegengesetzte Richtung, sucht keinen Blickkontakt. Von hinten greift seine Hand ihre Schulter und sie fährt wütend zu ihm herum, sieht in sein vorwurfsvolles Gesicht. Er hat auf sie gewartet, sie aufgespürt unter den vielen Leuten hier im Club, sie soll nicht weitergehen. Mit flehenden Augen sieht er sie an, so verblüffend ehrlich. Das irritiert sie. Ihr Blick gleitet über seinen Hemdkragen auf die nackte, glatte Haut, die sein Ausschnitt freigibt. Ich bin wie ein Kind, erklärt er, ich spiele gerne. Perfektes Lächeln. Das hat er gut gelernt, das Erklären, man könnte ein Bewusstsein für Unrecht vermuten, denkt sie und kneift die Augen zusammen. Womöglich hat er das nicht. Er zieht sie an ihrem Gürtel zu sich, will nicht, dass sie soweit auseinanderstehen. So ein schöner Mensch, so makellos in seinen Bewegungen, in seiner Mimik, wie für sie gemacht,
denkt sie


4.Song: Fever Ray - If I had a heart

Leider. Er will mit ihr tanzen, doch sie löst sich von ihm. Schiebt ihn mit einer schnellen harten Bewegung weg von sich. So unmissverständlich, dass er an seinem Fleck bleibt. Später gleitet er schweigend in ihren Windschatten. Das bleiche Gesicht des Mannes mit der Lederjacke taucht aus den Nebelschwaden auf, wendet sich ihr für einen Wimpernschlag zu, um dann in der Masse der Tanzenden zu verschwinden. Ob sie spazieren gehen möchte, er hüpft wieder neben sie, sie könnten doch spazieren gehen. Die feinen Linien, die sich von seiner spitzigen Nase abwärts zum Mund eingegraben haben, vertiefen sich. Wie schön das wäre, mit ihm spazieren zu gehen. Hand in Hand durch die Nacht, sich etwas zu erzählen, ins Ohr zu flüstern, zu lachen, denkt sie. Leider liegt ihr Smartphone unter einem Mülleimer in der Toilette. Mit einem kalten Blick verneint sie. Die Unsicherheit kann sie spüren, nicht sehen. Er überlegt, wartet, beobachtet ihr Anlitz von der Seite. Als er ihr die Hand zur Verabschiedung reicht, ist sie überrascht, zaubert ihm zum Trotz ein freundliches Gesicht mit einer ge-langweilten Note hin. Mit den Augen verfolgt sie ihn bis zum Ausgang, dann hastet sie zu den Waschräumen. Die Kabine ist leer, ihr Smartphone liegt noch unter dem Müllbehälter. Sie schließt sich ein und entfernt die Karte aus dem Telefon. Er wird sie nicht über das Gerät orten können. Dann zieht sie das Pfefferspray und das Klappmesser aus ihrer Tasche. Das Messer behält sie versteckt in ihrer Faust. Sie kämpft sich durch die Tanzenden zum Ausgang hin. Vorbei am Türsteher steigt sie die Treppen lässig nach oben. Hinter ihr wird die Musik leiser und ein kalter Lufthauch weht ihr entgegen, als sie auf der leeren Straße steht. Niemand ist zu sehen, also setzt sie sich in Bewegung.
Sie läuft nicht schnell, aber auch nicht zu langsam, horcht auf jedes Geräusch. Ihre Augen fliegen jedes Eck ab, jede dunkle Einfahrt, jeden schwarzen Mauervorsprung. Als sich aus einem Torbogen eine schemenhafte Gestalt löst, lässt sie reflexhaft die Klinge aufklappen. Doch es ist nur der Mann mit der Lederjacke, der sich eine Zigarette anzündet und zum Abschied die Hand hebt. Alles in Ordnung, nichts ist passiert.
Ihre Atmung geht zu schnell, sie zwingt sich normal Luft zu holen. Durch den Tunnel hindurch und auf der anderen Seite über die Brücke, dann schafft sie es zum Taxistand, denkt sie. Der Tunnel ist schwach beleuchtet, Graffitis an der Wand, zwei leere Bierflaschen liegen herum. Niemand zu sehen, es ist still. Ihre Absätze hallen durch die Röhre, der Schall wird von den Wänden tausendfach zurückgeworfen. Plötzlich hört sie ein Geräusch und dreht sich um, doch es ist nur eine blonde Frau, die ihr breitbeinig mit roten Pumps folgt. Sie kann das Gesicht der Frau nicht erkennen, doch die Blondine ist ihre Sicherheit. Etwas gelöster läuft sie bis zum Ende des Tunnels. Der Weg vor ihr weist mit einer leichten Biegung zur Brücke. Zu viel Gebüsch wächst an den Rändern, das sich undurchdringlich schwarz im Nachtwind wiegt. Mit festen Schritten läuft sie los, denkt an die Frau hinter sich im Tunnel und sieht nicht nach links oder rechts. Die ersten Stufen zur Brücke springt sie unbeherrscht hoch, nimmt zwei Treppen auf einmal, dann bleibt sie stehen und dreht sich nach der Frau aus dem Tunnel um. Der Weg liegt dunkel und einsam hinter ihr, von der Blonden keine Spur. Es ist der einzige Weg aus dem Tunnel. Sie lauscht kurz, doch es ist alles still. Ihr Herz klopft härter gegen die Brust, die Hand mit dem Messer fängt an zu schwitzen und sie rennt die restlichen Stufen auf die Brücke. Von oben erkennt sie die beruhigenden Lichter des Taxistandes. Gleich geschafft. Sie ist fast in Rufweite. Treppabwärts riskiert sie einen Blick hinter sich und oben auf den Stufen steht ein schlanker Mann. Seine gegeelten Haarsträhnen sind vom Wind zerzaust, der Anzug schlackert um seinen wohlgeformten Körper. Aus seiner Jackentasche ragt der Absatz eines roten Frauenschuhs. Sie hört seinen schnellen Atem und springt augenblicklich die Treppen hinab. Das Keuchen hinter ihr wird lauter, doch sie weiß, dass sie das Taxi erreichen wird. Sie ist eine schnelle ausdauernde Läuferin. Der Taxifahrer steht mit einer Zigarette an seinen Wagen gelehnt und sieht in sein Smartphone. Während sie ihren Lauf stoppt, reißt sie die Arme nach oben und schreit. Taxi! Das Keuchen hinter ihr verstummt und sie dreht sich mit einer eleganten Drehung um.
»Wir können uns ein Taxi teilen, nimmst du mich mit?« lächelt er sie etwas atemlos an. Entgeistert starrt sie ihm ins Gesicht.
»Wo musst du denn hin?« , presst sie heraus.
Er wischt mit seinem Ärmel über Mund und Gesicht. Mit der anderen Hand zieht er einen Kamm aus der Jackentasche, aus welcher der rote Schuh ragt. Im Untergrund glitzert blondes Haar.
Und dann zeigt er ihr sein perfektes Lächeln.


5.Song: ...

Einen Moment lang steht sie wie betäubt da, dann nimmt sie seine Hand und zieht ihn zum Taxi. Sie setzt ihr verstörendstes Lächeln auf und umklammert das Messer in ihrer Faust. So ein perfekter Mann, so schön, wie für sie gemacht.